Es brauchte nur 6 Stunden, um ungefähr 240 Unterschriften gegen den Abriss der Jagowstraße 35 zu sammeln. Dabei fragten viele: „Was können wir noch tun, um Euch zu unterstützen?“
In Solidarität mit dem gegenüberliegenden Haus hatte das Hausprojekt Jagowstraße 12 am 15. Juli zu ihrem jährlichen Hoffest eingeladen mit riesigem Buffet, Getränken, Livemusik und einer „Brücke zwischen den Häusern“.
Zusätzlich hängen seit Wochen im Infokasten neben der Eingangstür Informationen und aktuelle Artikel zur Jagowstraße 35.
Die lange Geschichte des Kampfes der Mieter*innen wollen wir an dieser Stelle nicht noch einmal erzählen, sie kann hier, hier, hier, hier und hier nachgelesen werden. Schaut euch am besten die Wandzeitung (pdf, Achtung: 20,3 MB) an, die zum Fest im Durchgang ausgehängt war.
In den Hof der Jagowstraße 35 lockten an diesem extrem heißen Tag nicht nur Kuchen und Eis, sondern auch die wunderbare Stimme einer Straßenmusikantin und ganz besonders auch die angenehme Kühle unter der großen Kastanie. Neben ihrem Wohnraum auch diesen Baum zu erhalten ist ein ebenso wichtiges Ziel der Mieter*innen.
Sie fordern vom Bezirk Mitte und dem schwarz-roten Senat ein Abrissmoratorium nicht nur aus wohnungspolitischen, sondern insbesondere aus klimapolitischen Gründen – eine ökologische Wende im Bausektor, der für 40% des Energieverbrauchs und für 60% des Abfallaufkommens in Deutschland verantwortlich ist. Bisher hat sich das Bezirksamt auf den Standpunkt gestellt, dass die Abrissgenehmigung erteilt werden müsse. Dafür wird höchstrichterliche Rechtsprechung aus dem Jahr 1985 zum Zweckentfremdungsverbotsgesetz herangezogen. Seit 2006 sind für Zweckentfremdung die Länder zuständig. Eine höchstrichterliche Entscheidung zu den Berliner Regelungen gibt es noch nicht.
Nun aber zurück zu der Frage: „Was tun?“
Bürgermeisterin Remlinger (Bü90/Grüne) ist zuständig für die Zweckentfremdung, Baustadtrat Gothe (SPD) für das Bauamt (Genehmigungen und Wohnungsaufsicht) – jede Bürgerin, jeder Bürger kann sich an sie wenden, per Mail oder telefonisch und auf die Problematik der Jagowstraße 35 hinweisen. Bürger*innen-Sprechstunden sind unter diesem Link zu finden. Manchen fällt es leicht, so eine Mail zu schreiben oder einen Anruf, manche tun sich damit schwer.
Unsere Idee: wir sammeln hier in den Kommentaren Begründungen und Textbausteine für Protest und Aufforderung an die Politiker*innen sich gegen den Abriss zu stemmen.
Nachtrag:
Anfang August hat die Akteneinsicht der Mieter*innen ergeben, dass der Bauantrag im Juni 2023 genehmigt wurde. Aber noch nicht der Abriss des Vorderhauses.
Hier die Genehmigungsliste (auf S. 2): „Neubau des VH mit Tiefgarage, Sanierung Mehrfamilienhaus, Einbau neuer Balkontürme und Aufzug, Modernisierung einzelner Wohnungen, Ausbau des Dachgeschosses und Herrichtung Hofanlagen“.
Die von der BVV Mitte beantragte Treuhänderschaft für das Haus ist wohl vom Tisch, angeblich musste der Bauantrag genehmigt werden, O-Ton Baustadtrat Gothe. Inwieweit ein Apell des Baustadtrats an die Eigentümer Erfolg haben könnte, sei hier mal dahingestellt, Artikel im Tagesspiegel.
Die Leute hier sind meine Nachbarn, die sollen hier bleiben und weiter ruhig wohnen… ich gehe zu Sprechstunde in Rathaus, zusammen können wir schaffen, Gier und Profit soll schwer haben
Gestern Mail an den Baustadtrat:
„Sehr geehrter Herr Gothe,
ich bitte Sie darum die Genehmigung der Abrißgenehmigung nicht zu erteilen und den dort lebenden Menschen ihr zu Hause zu erhalten.
Einen lieben Gruß
Frau Petra Leischen“
Mail an die Bezirksbürgermeisterin:
Sehr geehrte Frau Remlinger,
als Anwohnerin in einer der benachbarten Straßen bitte ich Sie, sich für den Erhalt des Wohnhauses in der Jagowstraße 35 einzusetzten.
Leerstand ist Zweckentfremdung!
Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass die leer stehenden Wohnungen in der Jagowstraße 35 instandgesetzt und und wieder als Wohnraum genutzt werden können.
Leider ist in dem Haus in der Vergangenheit viel versäumt worden.
Falls es zum Abriss des Hauses kommt, ist völlig unklar, wann an dieser Stelle wieder Wohnraum zur Verfügung steht. Den betroffenen Mietparteien nützt das sowieso nichts, sie verlieren ihre Wohnungen vermutlich für immer.
Ich hoffe sehr, dass Sie Ihre Zuständigkeiten dafür einsetzen können, dass das Wohnhaus in der Jagowstraße 35 erhalten bleibt und seinem Zweck entsprechend in vollem Umfang genutzt werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Anfang August hat die Akteneinsicht der Mieter*innen ergeben, dass der Bauantrag im Juni 2023 genehmigt wurde. Aber noch nicht der Abriss des Vorderhauses.
Hier die Genehmigungsliste (auf S. 2):
https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/aemter/stadtentwicklungsamt/bau-und-wohnungsaufsicht/genehmigungsliste-juni-2023.pdf
„Neubau des VH mit Tiefgarage, Sanierung Mehrfamilienhaus, Einbau neuer Balkontürme und Aufzug, Modernisierung einzelner Wohnungen, Ausbau des Dachgeschosses und Herrichtung Hofanlagen“
Kommentar zum neuen Tagesspiegel-Artikel über unser Haus!
Was uns bei Herrn Gothe und Frau Remlinger auffällt, ist, dass sie entweder gar nicht nach Lösungsalternativen suchen (Fr. Remlinger) oder nur mit einem einzigen Vorstoß ohne beharrliche Überzeugung (Hr. Gothe).
Es gibt aber klima- und sozialverträgliche Alternativen für Abriss und Neubau, erwähnt z.B. in diesem Kommentar zu unserem Haus von Niklas Schenker:
„Sanierung statt Abriss – Klimawandel ernst nehmen!
Der Gebäudesektor ist für 40% des des Endenergieverbrauchs und 60% des Abfallaufkommens in Deutschland verantwortlich. Wer bezahlbaren Wohnraum abreißt, um ihn durch teuren Neubau zu ersetzen, handelt nicht nur wohnungspolitisch verantwortungslos, sondern schadet auch massiv unserem Klima.
Wenn wir eine Chance haben wollen, unsere Klimaziele zu erreichen, brauchen wir die sozial-ökologische Wende im Gebäudesektor jetzt. Wer meint, die Genehmigung des Abrisses mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1985 rechtfertigen zu können, dem oder der ist wohl weder im Bezug auf den Mietenwahnsinn, noch auf die Bekämpfung des Klimawandels der Ernst der Lage bewusst – die ganz eindeutig eine andere ist, als sie es 1985 war. Außerdem wird dabei missachtet, dass sich das Urteil auf das Bundes-Zweckentfremdungsgesetz bezieht. Seit 2006 ist es die Sache der Länder, diesen Bereich zu regeln und zu den Berliner Regelungen fehlt es bislang an höchstrichterlicher Rechtsprechung. Hier braucht es die Courage der Bezirke und die Unterstützung des Senates, um den wohnungs- und klimapolitischen Wahnsinn auch vor Gericht abzuwenden.
Der neue Schwarz-Rote Senat ist außerdem dringend gefordert, dem Abriss von Gebäuden und insbesondere dem Abriss von bezahlbarem Wohnraum in der Bauordnung und im Zweckentfremdungsrecht ein klares Stoppschild zu setzen – so, wie es auf unser Betreiben hin unter Rot-Grün-Rot bereits vorgesehen war.“
Soweit das Zitat.
Die Hürde liegt unseres Erachtens darin, das Gemeinwohl (Klimaschutz, bezahlbarem Wohnraum) genauso wichtig zu nehmen wie die Eigentumsrechte und den angestrebten Gewinn einer kleinen Minderheit. Den Klimawandel müssen wir alle ausbaden, aber dem Senat fehlt der Wille, seine offiziellen Klimaziele zu verfolgen.
In dem Artikel sagt Herr Gothe: „Wir haben keine andere Wahl, als den Neubau und im Folgenden auch den Abriss zu genehmigen.“
Das ist nicht korrekt, siehe Gegendarstellung von N. Schenker (oben): Zweckentfremdung und somit Abriss ist seit 2006 Sache der Länder, und es fehlt bisher an Rechtsprechung dazu. Der Senat ist aufgefordert, zu klagen im Sinne des Gemeinwohls.
Außerdem behauptet Herr Gothe: „Bei einer Ortsbegehung hat unsere Wohnungsaufsicht festgestellt, dass die Wohnungen im Hinterhaus nicht durch Bauarbeiten in einen unbewohnbaren Zustand versetzt wurden.“ Daher seien dem Bezirksamt rechtlich die Hände gebunden.
Mieter_innen waren selbst bei den beiden Vor-Ort-Terminen mit der Bau- und Wohnungsaufsicht dabei (17.08.22 und 08.06.23), und beide Male wurden die entkernten Wohnungen NICHT besichtigt, die Türen blieben verschlossen.
Entgegen der Behauptung von Herrn Gothe wurden alle leeren Wohnungen im Hinterhaus und Seitenflügel unbewohnbar gemacht durch die Entkernung, obwohl es nur geringen Aufwand gekostet hätte, sie bezugsfertig zu machen. Zum Beispiel wurde die Wohnung gegenüber einer der Mieter_innen erst zum Januar 2022 frei und war vor der Entkernung in sehr gutem Zustand, weil der Mieter selbst ausführlich renoviert hatte.
Was der Senat und das Bauamt mit Leichtigkeit ändern könnten, wäre ein Zusatz in der Baugenehmigung, dass es sich hiermit ausschließlich um Baurecht handelt, jedoch noch die Aspekte des Mietrechts und des Baunebenrechts geklärt werden müssen. Ein genehmigter Bauantrag gibt den Eigentümern das Gefühl, von Rechts wegen loslegen zu dürfen mit den Bauarbeiten, aber die faulen Mieter stehen noch im Weg.
Ein Hinweis in der Genehmigung würde sehr helfen, dieses Bild zurecht zu rücken.
Mietrechtlich ist zu klären: das Vorderhaus ist bewohnt von 2 Mietparteien mit zusammen 6 Personen. Der Abriss des Vorderhauses würde für alle Bewohner (auch diejenigen im Hinterhaus und Seitenflügel) folgende Konsequenzen haben:
Wegfall des Zugangs zu den Wohnungen (der Zugang erfolgt durch das Vorderhaus, alternative Zugänge sind nicht vorhanden und auch nicht möglich), die Heizungsanlage wäre nicht mehr zu betreiben (befindet sich im Keller des Vorderhauses), unzumutbar langer Ausfall der Versorgungsleitungen (Strom, Wasser, Telefon, etc.) während der Aushebung der Grube für die Tiefgarage und Bauarbeiten, Wegfall der Gemeinschafts-Waschküche im Keller des Vorderhauses (es ist in den Wohnungen kein Platz und es sind auch keine Anschlüsse für Waschmaschinen vorhanden). Mit uns Mieter_innen wurde kein Kontakt aufgenommen zur Lösungsfindung, es wird nur seit Jahren Entmietungsdruck ausgeübt (direkte Ansprache mit Aufforderung zum Auszug, bei zwei Mietern jeweils ein inakzeptables Wohnungsangebot (teurer, kleiner, in hintersten Neukölln bzw. Treptow), Beschimpfen von Mieter_innen im Treppenhaus durch die Hauswartsfrau („Weil Sie nicht ausziehen wollen, können wir nicht sanieren“), Verfallenlassen des Hauses.
Und zuletzt leben wir seit der Entkernung mit der Gefahr einstürzgefährdeter Wände und Böden. Darüber wurde schon letztes Jahr die Hausverwaltung und auch die Bauaufsicht per mail am 05.08.2022 informiert: „… in einzelnen Wohnungen Böden/Decken entfernt wurden, wodurch das aussteifende horizontale Element des Gebäudes fehlt. Bei einem alten, geschwächten Gebäude wie diesem, das bereits zwei Weltkriege über sich ergehen lassen musste, reichen dann schon kleine Veränderungen im Grundwasser, ein Unwetter mit starkem Wind oder ein kleines Erdbeben, um über Verlagerungen im Mauerwerk die freistehenden Hausflügel zum Einsturz zu bringen. Wir erinnern hier an das Kölner Archiv. Die MieterInnen haben hier berechtigte Sorge, es ist Gefahr im Verzug.“
Diese Gefahr besteht bis heute. Der Sachverhalt wurde durch einen Architekten und Statiker im Mai diesen Jahres bestätigt. Hätte die Bau- und Wohnungsaufsicht tatsächlich die leeren Wohnungen besichtigt, wie Herr Gothe behauptet, hätte ihnen auffallen müssen, dass die Statik geschwächt wurde durch das Entfernen der versteifenden Bodendielen. Das heißt auch: für diese Entkernung wäre eine Baugenehmigung Voraussetzung gewesen (wg. Eingriff in die Statik)! Ist aber niemandem aufgefallen – was ist das denn für eine Bau- und Wohnungsaufsicht?.
Also, der Senat kann Vieles tun: für Klimaschutz klagen, in den Baugenehmigungen hinweisen auf Mietrecht und Baunebenrecht (Artenschutz: ganzjährig ansässige Vogelpopulation, über 100 Jahre alte Kastanie, welche für die Tiefgarage gefällt werden soll, aber als CO2-Speicher und Schattenspender schützenswürdig ist), und das sind jetzt nur unsere Ideen – der Senat ist am Zug, sich etwas einfallen zu lassen, anstatt nur zuzusehen, wie das Klima geschädigt wird, angestammte Mieter und bezahlbarer Wohnraum verschwinden.
Heute 400 Unterschriften an Bezirksbürgermeisterin Remlinger übergeben. Ergebnis: ein Fachgespräch (Runder Tisch Jagowstraße 35) soll einberufen werden.
Gestern Abend in der Abendschau immerhin 7:30 min. zu Abriss am Beispiel der Jagowstraße
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